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„Sehr scharf, essayistisch, polemisch – in jedem Fall sehr zugänglich“

Ralf Richter sprach mit Ines Schw­erdt­ner, Chefredak­teurin von Jacobin, über Medi­en in Ameri­ka und Europa und die Her­aus­forderung der LINKEN, in der Welt der Algo­rith­men durchzu­drin­gen

Frau Schw­erdt­ner, wie wird man Chefredak­teurin ein­er amerikanis­chen linken Pub­lika­tion für deutschsprachige Leser?

Da kom­men mehrere Fak­toren zusam­men: Gesin­nung. Inter­esse an Pub­lizis­tik. Englisch- und Poli­tik­studi­um und last but not least der Zufall.

Kön­nen Sie das näher aus­führen?

Was die Gesin­nung bet­rifft, ​so würde ich mich dur­chaus als Marx­istin beze­ich­nen. Schließlich kommt man über das Lesen zum Schreiben. Wenn man linke Beiträge liest, liegt es nahe, irgend­wann für eine linke Pub­lika­tion zu schreiben. So habe ich begonnen, für „Das Argu­ment“ zu arbeit­en, vielle­icht ken­nen Sie die Zeitschrift?

Lei­der nein!

„Das Argu­ment – Zeitschrift für Philoso­phie und Sozial­wis­senschaften“ wurde 1959 von marx­is­tis­chen Linken West­deutsch­lands gegrün­det und erscheint heute noch vier Mal jährlich. Während meines Englisch-Studi­ums kam ich dann in Berührung mit der amerikanis­chen Linken und war erst Leserin von der orig­i­nalen Aus­gabe von Jacobin, bevor ich dann mit Gle­ich­gesin­nten auf die Idee kam, diese Pub­lika­tion nach Deutsch­land zu brin­gen.

Klingt ein­fach, war es​ auch so ein­fach?

Nein! Wir haben dafür extra einen sozial­is­tis­chen Ver­lag gegrün­det – und das 30 Jahre nach der Wende! Durch unseren Bru­maire Ver­lag sind wir eigen­ständi­ger als wenn wir an einen beste­hen­den linken Ver­lag gekop­pelt wären – und wir haben auch vor, über das Mag­a­zin hin­aus weit­ere Pub­lika­tio­nen her­auszubrin­gen.

In den USA vol­lzieht sich aktuell ein großes Lokalzeitungsster­ben. In den let­zten zehn Jahren sind über tausend Zeitun­gen ver­schwun­den. Gle­ichzeit­ig entste­hen im Inter­net neue Pub­lika­tio­nen für ganze Bun­desstaat­en, wie Ohio Star, Michi­gan Star oder Min­neso­ta Sun. Wenn man hin­ter die Kulis­sen schaut, wer­den alle diese Blät­ter von einem einzi­gen repub­likanis­chen Abge­ord­neten „bespielt“. Damit wird natür­lich eine Welt­sicht trans­portiert. Wie kann sich in so einem Umfeld eine linke Pub­lika­tion behaupten?

Das ist ein Punkt, der uns auch sehr beschäftigt; dass wir sowohl in den USA als auch in Deutsch­land immer weniger medi­ale Großkonz­erne haben, die als Mei­n­ungs­mach­er auftreten und denen ste­hen nur sehr wenige kleine linke und unab­hängige Stim­men gegenüber. Da macht auch eine Schwalbe wie Jacobin noch keinen Som­mer und ich würde mir wün­schen, dass es noch mehr größere linke Zeitun­gen gibt. Wir sehen es ja bei uns: Wir kom­men kaum an Zeitungskioske und im Inter­net tre­f­fen uns die Algo­rith­men.

Das heißt, in den Such­maschi­nen wer­den ihre Beiträge nicht ger­ade promi­nent gelis­tet. Aber was lässt sich gegen diese Mis­ere tun?

Wenn also das Geld fehlt, dann kön­nen nur „Graswurze­lar­beit“ – mit anderen Worten Mund zu Mund-Pro­pa­gan­da –, und gegen­seit­ige sol­i­darische Unter­stützung der linken Medi­en helfen, aber wir nutzen auch die beste­hen­den Plat­tfor­men so gut es eben in unserem Sinne geht.

Wie ist die Lage in den USA? Ich kann mir vorstellen, dass es viele Abon­nen­ten an der Ostküste gibt und auch an der West­küste, dafür aber eher wenige im Kern­land.

Das fehlt mir ein biss­chen der Überblick. Ins­ge­samt gibt es 40.000 Leserin­nen und Leser. Es wird sich aber im Großen und Ganzen ähn­lich ver­hal­ten wie bei uns, wo wir auch mehr Leserin­nen und Leser in den großen Städten wie Ham­burg, Berlin oder Leipzig haben. Aber es gibt auch Leute in ganz kleinen Dör­fern, die uns lesen. Zudem hil­ft natür­lich die Online-Aus­gabe von Jacobin. Das ver­größert die Reich­weite immens. Online erre­icht man Regio­nen, die weit über das großstädtisch und stu­den­tisch geprägte Milieu hin­aus­ge­hen, weil man damit wirk­lich das Land erre­ichen kann, was mit der gedruck­ten Aus­gabe weniger möglich ist.

In Ihrem Man­i­fest ste­ht, dass Sie mit Jacobin nicht nur die tra­di­tionelle linke Wäh­ler­schaft im Blick haben, son­dern darüber hin­aus in anderen Bevölkerungskreisen gele­sen wer­den wollen. Wie wollen sie das bew­erk­stel­li­gen?

Wir wollen das durch eine The­men­bre­ite erre­ichen, die über klas­sis­che linke The­men hin­aus­greift. Es geht aber auch nicht zulet­zt um den Schreib­stil. Das begin­nt mit den Über­schriften. Mit der auss­chließlich akademis­chen Prä­gung erre­icht man nicht unbe­d­ingt die Tante auf dem Land, die nicht studiert hat, aber auch die wollen wir erre­ichen und so geht es darum, unter­halt­sam, gut ver­ständlich, also im besten Sinne des Wortes volk­stüm­lich zu schreiben. Sehr wichtig darüber hin­aus find­en wir aber auch ein ansprechen­des schönes Design – sowohl online als auch in der Druck­aus­gabe. Es soll ein­fach Spaß machen, die Texte zu lesen. Dies zusam­mengenom­men ist unser Rezept, um auch die zu erre­ichen, die sich nicht unbe­d­ingt als links einord­nen, die aber offen sind für andere Ideen.

In der Tat, ich fand die Beiträge im Inter­net auch her­vor­ra­gend les­bar, nur etwas hat mich irri­tiert: Mir fehlten die Rubriken, also so eine Art Inhaltsverze­ich­nis bzw. eine Struk­tur. Habe ich da etwas überse­hen?

Nein, da haben Sie nichts überse­hen. Das bauen wir noch auf, so dass man dann nach älteren Beiträ­gen recher­chieren kann zum Beispiel. Die wür­den wir dann auch kat­e­gorisieren zum The­ma Wirtschaft, Arbeit, Kul­tur usw.

Beson­ders inter­es­sant sind ja auch die lokalen Lesezirkel oder Leseg­rup­pen, die sich in ver­schiede­nen Orten zum gegen­seit­i­gen Ken­nen­ler­nen und zur gemein­samen Diskus­sion von Beiträ­gen tre­f­fen. Im amerikanis­chen Orig­i­nal sieht man, wo es über­all Leseg­rup­pen gibt, und die sind offen­bar auch im Aus­land vorhan­den. Solche Grup­pen sind auf Ihrer deutschsprachi­gen Home­page noch nicht zu sehen.

Das hat­ten wir ganz zu Anfang geplant. Aber wir sind aus­gerech­net in der Pan­demie ges­tartet, im Mai 2020, wo ger­ade der erste Lock­down war. Wir hat­ten das ABC des Kap­i­tal­is­mus als Bil­dungsange­bot eingestellt und woll­ten Lesekreise in ver­schiede­nen Städten anbi­eten. Aber lei­der ist daraus erst ein­mal nichts gewor­den. Gle­ich­wohl bleibt das The­ma auf unser­er Agen­da und wir wer­den es wieder aufnehmen. Im Ameri­ka war das Konzept mit den Jacobin-Read­ing-Groups sehr erfol­gre­ich. Es sind daraus Grup­pen der Demo­c­ra­t­ic Social­ists of Amer­i­ca ent­standen – dadurch find­et schon eine Poli­tisierung statt, genau­so wie das auch mit Marx-Lesekreisen war.

Anders als bei der deutschen Aus­gabe der Le Monde Diplo­ma­tique ist die deutsche Jacobin keine reine Über­set­zung der Orig­i­nalaus­gabe, son­dern Sie schreiben in Ihrem Man­i­fest: „Es geht um eine Über­set­zung im dop­pel­ten Sinn: Eigen­ständi­ge Aneig­nung des Jacobin-Stils für unsere eige­nen Beiträge plus Über­tra­gung des Mate­ri­als aus der US-amerikanis­chen Aus­gabe.“ Wie wür­den Sie den Jacobin-Stil beschreiben?

Ich würde sagen: Sehr scharf, essay­is­tisch, polemisch – in jedem Fall sehr zugänglich.

Als deutschsprachige Jacobin-Aus­gabe richt­en Sie sich ja prak­tisch an ein „3sat-Pub­likum“. Wie set­zen Sie das um?

Wir bemühen uns, in jed­er Aus­gabe etwas aus Öster­re­ich und der Schweiz zu brin­gen. Zum Beispiel hat­ten wir jet­zt ein Inter­view mit Elke Kahr von der KPÖ in Graz, die dort bei den let­zten Kom­mu­nal­wahlen zur Bürg­er­meis­terin gewählt wurde, und etwas zur recht­en Schweiz­er Medi­en­land­schaft. Im Fokus sind dort auch Arbeit­skämpfe und Ereignisse, die man son­st in Deutsch­land von unseren Nach­bar­län­dern nicht mit­bekommt. Allerd­ings ist es momen­tan noch so, dass wir eher über Öster­re­ich und die Schweiz für eine deutsche Leser­schaft schreiben, da die Zahl der Leserin­nen und Leser in Öster­re­ich und in der Schweiz noch ziem­lich klein ist. Aber wir gehen auf das dor­tige Pub­likum zu, indem wir in unseren Beiträ­gen aus der Schweiz ganz fre­und­schaftlich-genossen­schaftlich die Schweiz­er Rechtschrei­bung anerken­nen durch Berück­sich­ti­gung der Hel­vetis­men.

Wo kom­men Ihre Autorin­nen und Autoren über­haupt her?

Erst ein­mal über­set­zen wir sehr viel aus den Jacobin-Schwest­erzeitschriften aus dem Englis­chen und Spanis­chen. Ins­beson­dere die US-Autorin­nen und Autoren kön­nen sehr gut schreiben, da gibt es ein großes Poten­tial. Bei den deutschen ist es so, dass da sehr viele aus dem akademis­chen Bere­ich kom­men. Da müssen wir etwas „über­set­zen”, damit es pop­ulär­er und les­bar­er wird.

Was sind das für Leute?

Sozi­olo­gen, Gew­erkschafter und mehr the­o­retisch aus­ge­bildete Men­schen, auch Leute, die Kul­tur­texte schreiben. Vor allen Din­gen geht es bei den ange­sproch­enen Über­set­zungsleis­tun­gen um „Über­set­zun­gen“ aus der akademis­chen in die jour­nal­is­tis­che oder nor­male Sprache. Uns geht es the­ma­tisch um einen möglichst sehr bre­it aufgestell­ten Autorin­nen- und Autoren­pool, mit dem wir vom Bere­ich Arbeit über inter­na­tionale Poli­tik bis Kli­maschutz alles abdeck­en kön­nen.

Nach 1990 wurde linke Geschichte in Ost­deutsch­land sys­tem­a­tisch aus­gelöscht. Ein Bespiel aus Dres­den: Da gab es nicht nur eine Ho-Chi-Minh-Straße und einen Sal­vador-Allende-Platz mit einem Sal­vador-Allende-Denkmal, wo Exil-Chile­nen und Deutsche jährlich an dessen Todestag des linken Präsi­den­ten gedacht­en, son­dern es wurde auch alljährlich der Mar­tin-Ander­sen-Nexö-Kun­st­preis der Stadt Dres­den an dessen Geburt­stag ver­liehen – der dänis­che Autor hat­te hier seine let­zten Leben­s­jahre ver­bracht. Kann oder will man bei der deutschen Aus­gabe von Jacobin auch diese vergesse­nen Tra­di­tio­nen wieder ins Bewusst­sein rück­en?

Das ver­suchen wir dezi­diert. Tat­säch­lich ist es so, dass diese his­torischen Beiträge über­raschend gut funk­tion­ieren. So hat­ten wir einen Beitrag über Berlins ersten schwarzen Kom­mu­nis­ten, oder wir hat­ten eine ganze Aus­gabe zum Osten und zur DDR-Geschichte und das ist alles sehr pos­i­tiv aufgenom­men wur­den. Wir haben das gle­ich in der drit­ten Aus­gabe gemacht und wur­den da für unseren Mut gelobt. Auch die Geschichte Jugoslaw­iens find­et großes Inter­esse. Auch die Amerikan­er schreiben Beiträge zu Rosa Lux­em­burg oder zur Rus­sis­chen Rev­o­lu­tion, um die Erin­nerung wach zu hal­ten. Es gibt ja viele Jubiläen, wo man Stück für Stück die sozial­is­tis­che Geschichte ins Bewusst­sein rück­en kann und wir sind da eben auch bere­it, von Zeit zu Zeit eine kom­plette Aus­gabe der sozial­is­tis­chen Geschichte zu wid­men.

Man kann Geschichte als etwas Abgeschlossenes betra­cht­en oder als etwas, das bis in die Gegen­wart reicht. Ger­ade hier in Sach­sen leben wir in einem Dreilän­dereck. Da gab es über Jahrzehnte Verbindun­gen der Linken zwis­chen Böh­men und Sach­sen. Gibt es auch ein Inter­esse daran, diese Geschichte und Gegen­wart län­derüber­greifend­er Verbindun­gen darzustellen, zum Beispiel zu Tschechien?

Ger­ade in Tschechien hat es bei den let­zten Wahlen für die linken Kräfte eine große Nieder­lage gegeben, so dass die Linken gar nicht mehr im Par­la­ment präsent sind. Das wurde in Deutsch­land kaum aufgenom­men und mir fehlt ehrlich gesagt momen­tan auch die Idee, wie man das unserem Pub­likum nahe­brin­gen kann. Wenn es Wahlen in Frankre­ich gibt, ist das Inter­esse sehr groß, aber wenn es um Tschechien oder Polen geht, ist es sehr schwierig, das Inter­esse an den Wahlen dort zu ver­mit­teln, was ich per­sön­lich sehr schade finde. Denn ger­ade diese Län­der sind uns doch schon geo­graphisch sehr nahe und es wäre gut und sin­nvoll, die tschechis­chen und pol­nis­chen Genossin­nen und Genossen zu unter­stützen. Aber da sind wir noch auf der Suche, um einen Weg dafür zu find­en.

Am 21. Feb­ru­ar startet Trump mit Truth Social sein eigenes Soziales Medi­um, um nun nicht mehr auf Twit­ter angewiesen zu sein, wo man ihm den Zugang ges­per­rt hat. Wenn aber Linke Soziale Medi­en nutzen, dann sind sie auf What­sApp angewiesen oder Twit­ter. Wäre es nicht eben­falls angezeigt, eigene Soziale Medi­en zu entwick­eln?

Es wäre schon gut, wenn wir die Möglichkeit­en hät­ten und so nicht auf die Algo­rith­men angewiesen wären durch die Ver­wen­dung eigen­er Tech­nik, aber das haben wir alles nicht. Obwohl wir einen Ver­lag gegrün­det und eine eigene Home­page haben, sind wir darauf angewiesen, dass die Leute uns über Google find­en. Wir sind auf die beste­hen­den Sozialen Medi­en angewiesen, weil uns die Mark­t­macht fehlt. Es gab vor ein paar Jahren schon ein­mal den Ver­such, eine Art linkes Net­flix zu grün­den, so einen Stream­ing­di­enst, aber lei­der hat das nicht funk­tion­iert, trotz großer Spendenkam­pagne.

Zum Abschluss ein Aus­blick: Was haben wir in diesem Jahr zu erwarten von Jacobin, Sie betreiben ja auch einen eige­nen Youtube-Kanal?

Ja, in der Tat haben wir in Kreuzberg ein kleines beschei­denes Büro mit ein­er Art Stu­dio. Wir machen dort Live-Streams via Zoom und Talk-Run­den und wollen noch mehr Online-For­mate entwick­eln. Wir wer­den also mehr Pod­casts und Videos her­stellen, ein­fach um eine größere Var­i­anz zu haben. Das Rück­grat ist und bleibt aber das Print­magazin, auf dieses Instru­ment bauen wir und das ist unsere ökonomis­che Basis – aber die Verteilung der Inhalte wird immer stärk­er über Video- und Audio­pro­duk­tio­nen erfol­gen.