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Ostfront 1942

René Lin­de­nau emp­fiehlt einen Film über eine vergessene Schlacht

Von Jan­u­ar 1942 bis März 1943 war die nor­drus­sis­che Stadt Rschew Schau­platz beson­ders erbit­tert­er und grausamer Kämpfe im deutsch-sow­jetis­chen Krieg. Ein Sol­dat der sow­jetis­chen 17. Garde­schützen­di­vi­sion erin­nerte sich im Som­mer 1942: „Im ganzen Krieg habe ich nichts Schreck­licheres gese­hen: Riesige Bombenkrater, bis zum Rand mit Wass­er gefüllt, am Weges­rand zer­störte Fuhrw­erke und Autos, tote Pferde und ring­sherum nur Leichen. Und aus dem Wald das Stöh­nen der Ver­wun­de­ten.“ Den­noch wurde die Schlacht um Rschew von der sow­jetis­chen Erin­nerungskul­tur über ein halbes Jahrhun­dert ver­schwiegen und auf die hin­teren Plätze ver­drängt. In die Loge schafften es immer nur Moskau, Stal­in­grad, Kursk, Berlin. Der „Fleis­chwolf von Rschew“, den man vor allem angesichts der immensen Ver­luste der Roten Armee so nen­nt, schien dage­gen auf Dauer eine Neben­rolle in der son­st als so glanzvoll dargestell­ten Geschichte des „Großen Vater­ländis­chen Krieges“ (1941–1945) einzunehmen.

Erst nach dem Ende der Sow­je­tu­nion haben sich His­torik­er und Pub­lizis­ten in nen­nenswert­er Weise dem blut­getränk­ten Kampf­feld Rschew angenähert und ver­sucht, es aufzuar­beit­en. Auch die Gat­tung Film hat „Rschew“ als wichti­gen Stoff erkan­nt und mit „Ost­front 1942“ auf Zel­lu­loid geban­nt. Um es vor­weg zu sagen: Dieser Film „ver­di­ent“ seine Alters­freiga­be ab 18. Schon die Anfangsszene hat es in sich: Zu sehen ist eine Ein­heit Rotarmis­ten, die schießend, schreiend, fal­l­end zer­ris­sen und zer­löchert in einem Stur­man­griff (dem wieviel­ten eigentlich) gegen die deutschen Stel­lun­gen anren­nt. Dann mit­ten in diesem mörderischen Sturm­lauf sinkt ein trau­ma­tisiert­er Sol­dat schluchzend auf den Boden und beobachtet fas­sungs­los das Geschehen – bis ihn am Ende doch irgen­dein Quer­schläger oder ein geziel­ter Schuss aus dem Leben reißt.

Die Filmhand­lung an sich ist schnell erzählt: In der Schlacht um Rschew hält nach ver­lus­tre­ichen Kämpfen das verbliebene Drit­tel ein­er sow­jetis­chen Ein­heit die Stel­lung vor dem Dorf Ovsyan­niko­vo und wartet auf das Ein­tr­e­f­fen der angekündigten Ver­stärkung. Bis dahin hal­ten sie die Wehrma­cht­strup­pen opfer­re­ich in Schach. Doch statt Ver­stärkun­gen schickt man erst­mal einen jun­gen NKWD-Offizier. Seine Auf­gabe ist das Auf­spüren von ver­meintlichen Ver­rätern. Anlass für diese Maß­nahme war der Abwurf von „Papier­bomben“, welche die Sow­jets zur Kapit­u­la­tion auf­forderten. Einen kann der NKWD-Mann angesichts des abse­hbar eige­nen Todes auch ermit­teln, als jen­er sich bei der Gefan­gen­nahme durch die Deutschen selb­st ent­larvt. Genutzt hat es ihm nicht. Aber der Umgang mit diesen Flug­blät­tern, vom Kom­man­deur, dem Politkom­mis­sar, dem Geheim­di­en­stof­fizier sowie den Sol­dat­en selb­st, dürfte beze­ich­nend für das Kli­ma in der dama­li­gen UdSSR gewe­sen sein.

Der dazuge­hörige Hand­lungsstrang hält manche bek­lem­mende Sit­u­a­tion bere­it, jeden­falls emp­fand ich es so. Doch eben­so erlebt der Zuschauer die Wand­lung des NKWD-Unter­leut­nants. Anfänglich trat er gegenüber den Sol­dat­en, die kurz zuvor durch eine grausige Blut­müh­le gedreht wor­den waren, arro­gant und selb­s­ther­rlich, ja beina­he fanatisiert auf. Später gerät er zu einem sym­pa­this­chen Sohn sein­er Zeit (der Sow­je­tu­nion nach 1917, in der er als Waise aufwuchs), bis er schließlich durch eine deutsche Salve den Tod in der Erde von Müt­terchen Rus­s­land find­et.

Dazwis­chen und danach: Krieg in allen Facetten. Man find­et beim gefal­l­enen deutschen Ein­drin­gling Fleis­chkon­ser­ven, erbeutet Pis­tolen und Uhren, redet von Zuhause, find­et von der faschis­tis­chen Sol­dates­ka ermordete Zivil­bevölkerung. Dann ein Artillerieüber­fall, Ein­schläge, Beine wer­den abgeris­sen, erbit­terte Nahkämpfe, bar­barische Flam­men­wer­fer, wieder Schreie, eine vollbe­set­zte Baracke mit Ver­wun­de­ten fliegt in die Luft, sie schreien nicht mehr. Aber Rück­zug ist von höch­ster Stelle aus­geschlossen. Wohin auch? So lautet der let­zte Film-Befehl: Das Dorf müsse wieder ein­genom­men wer­den. Was man dann sieht, sind müde abgekämpfte Sol­dat­en, die durch einen nächtlichen Win­ter­wald stapfen – am Hor­i­zont das hell erleuchtete Dorf, das erneut der deutschen Erober­er­hand entris­sen wer­den soll. Dies­mal endgültig? Hier bricht der Film ab, seine Laufzeit ist been­det. Das Pub­likum wird somit im Ungewis­sen darüber gelassen, wie der Kampfweg jen­er Trup­penein­heit weit­er ging und wie das unmit­tel­bar bevorste­hende Gefecht schließlich endete. Aber im Abspann war zu lesen: „Die Kämpfe um Rschew hat­ten eine wichtige strate­gis­che Bedeu­tung für den ver­nich­t­en­den Sieg über die Faschis­ten bei Stal­in­grad und änderten den Ver­lauf des Zweit­en Weltkrieges entschei­dend. Im März 1943 wur­den die Deutschen vom Rschew­er Brück­enkopf ver­trieben. Die Frontlin­ie kon­nte so um mehr als 150 Kilo­me­ter nach Deutsch­land ver­schoben wer­den. Die lang erwartete Ver­stärkung der Deutschen bei Stal­in­grad wurde ver­hin­dert.“

Den­noch urteilte der Mil­itärhis­torik­er Gen­er­aloberst Dmitri Wolko­gonow (1928–1995) angesichts der extremen Ver­luste, die wesentlich wohl auch auf mil­itärische Fehlentschei­dun­gen der Stawka (Oberkom­man­do) und ander­er in diesem Oper­a­tions­ge­bi­et an ver­ant­wortlich­er Stelle postierten Befehlshaber (Shukow, Jere­menko, Konew) zurück­zuführen waren: Die Schlacht­en um Rschew vom Okto­ber 1941 bis März 1943 gehören zu den größten Katas­tro­phen des Zweit­en Weltkrieges.